Polyvagal-Theorie einfach erklärt

Vagusnerv

Die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem zwischen Sicherheit, Kampf/Flucht und Erstarrung wechselt – je nachdem, ob wir uns sicher oder bedroht fühlen. Erfahre in diesem Fachartikel einfach und verständlich die wichtigsten Punkte der Polyvagal-Theorie und wie das autonome Nervensystem deine Gefühle beeinflusst. 

🧠 Was macht das autonome Nervensystem?

Unser autonomes (auch vegetatives) Nervensystem steuert viele unbewusste Abläufe – etwa Atmung, Herzschlag, Verdauung oder Muskelspannung. Es reagiert automatisch auf das, was wir erleben – ohne bewusste Kontrolle.

Stell dir vor, du müsstest aktiv darüber nachdenken, dass deine Atmung schneller wird, wenn du Sport machst? ➡ Du musst es nicht – dein autonomes Nervensystem macht das für dich. Es beschleunigt Herzschlag, Atmung und setzt Energie frei, wenn sie gebraucht wird.

Was ist die Polyvagal-Theorie? Eine neue Sicht 🧠🧡

In der Schule haben viele von uns gelernt: Es gibt den Sympathikus (Aktivierung) und den Parasympathikus (Entspannung). In der Polyvagal-Theorie wird diese Sicht in drei Teile erweitert:

  • vorderer, ventraler Vagus-Ast (Parasympathikus) 
  • Sympathikus
  • hinterer, dorsaler Vagus-Ast (Parasympathikus)

Diese drei Teile des vegetativen Nervensystems entsprechen in der Polyvagal-Theorie drei verschiedenen Reaktionskreisläufen, mit denen das autonome Nervensystem auf Signale von Gefahr reagieren kann.

Das Nervensystem reagiert auf Sicherheit und Gefahr💪

Unser Nervensystem entscheidet blitzschnell, wie wir reagieren – oft noch bevor unser Bewusstsein versteht, was los ist. Deshalb spüren wir manchmal zuerst ein körperliches Gefühl (z. B. Herzklopfen, Enge in der Brust), bevor wir gedanklich verstehen, was passiert.

Ein Beispiel: Du gehst nachts eine Strasse entlang und dir stellen sich die Nackenhaare auf – dein Körper reagiert auf eine «Gefahr», noch bevor du aktiv denkst, das es gerade gefährlich sein könnte.

Die Theorie von Dr. Stephen Porges erklärt, einfach gesagt, wie unser autonomes Nervensystem auf Signale für Sicherheit oder Gefahr reagiert und wie diese Reaktion unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten beeinflusst.

Story follows State 🎤

Es ist nämlich so: Wenn unser autonomes Nervensystem entscheidet, dass wir in Gefahr sind und zum Bespiel mit «Fight» reagiert, verändert das unseren Blick auf die Welt. Wir werden misstrauischer, sehen mehr Bedrohung und sind schneller gereizt.

Das erklärt, warum uns eine Situation an einem Tag gleich auf 180 bringen kann und wir am anderen Tag total gelassen bleiben. 💡

Das Prinzip «Story follows State» von Therapeutin Deb Dana erklärt, dass unsere Gedanken und Gefühle vom Reaktionskreislauf (auch Zustand) geprägt werden, in dem sich unser Nervensystem befindet.

Drei Zustände: Sicherheit, Kampf/Flucht und Erstarrung⚡🦋🎈

Die Polyvagal-Theorie beschreibt drei Reaktionskreisläufe (auch Zustände genannt) in einer hierarchischen Reihenfolge:

  • Soziale Verbundenheit, Sicherheit – ventraler Vagus-Ast: «Ich bin fein mit mir und der Welt und kann Herausforderungen meistern».
  • Kampf oder Flucht, Fight-Flight – Sympathikus: «Ich muss, ich muss, ich muss – ich stehe unter Druck und die Welt ist oft mein Gegner!»
  • Abschalten, Lähmen, «Totstellreflex» – gesteuert durch den dorsalen Vagus-Ast: «Ich kann nicht (mehr) und gebe auf. Ich bin allein und niemand unterstützt mich.»

Auf Signale für Gefahr reagiert unser autonomes Nervensystem zuerst mit dem Versuch, durch eine soziale Interaktion die Situation zu bewältigen. Wenn das nicht funktioniert, folgt Mobilisierung (Kampf/Flucht). Wenn auch das nicht möglich ist, kommt die Lähmung.

Ein Beispiel: Du bekommst eine stressige E-Mail. Zuerst denkst du daran, eine Verbindung herzustellen (Freund:in anrufen). Wenn das nicht klappt, steigert sich dein Stress – du wirst wütend oder nervös. Wenn auch das nicht zur Lösung führt, fühlst du dich irgendwann blockiert, «wie taub» – dein System schaltet quasi ab.

Flexibel erleben oder festhängen 🛑🌀

In Beispiel oben mit der E-Mail durchlebst du alle Reaktionskreisläufe. Wir erleben oft alle abwechselnd und können flexibel reagieren. Problematisch wird es dann, wenn wir nicht mehr flexibel zwischen den Zuständen wechseln können, sondern festhängen.

➡ Wir sind dauerhaft gestresst, gereizt und unter Druck
➡ Wir sorgen uns ständig oder fürchten uns, haben diffuse Ängste
➡ Wir sind wie eingefroren, grübeln ständig ohne Lösung
➡ Wir drehen uns im Kreis, haben die Orientierung verloren
➡ Wir sind blockiert
➡ Wir sind wie gelähmt, nur noch erschöpft und taub

⚖️ Was passiert bei Stress und Dysregulation?

Wenn wir dauerhaft unter Druck oder wie gelähmt sind, ist das System in einer Schutzreaktion auf eine gefühlte Gefahr hängen geblieben. Das bedeutet: Wir können nicht mehr richtig abschalten, uns entspannen oder in Verbindung gehen – selbst wenn keine reale Gefahr (mehr) da ist.

Wir sind dann entweder ständig «an» (innerlich auf Alarm) oder «zu» (emotional abgeschaltet oder erschöpft).

😣 Mögliche Anzeichen einer Dysregulation:
  • dauerhafte Anspannung oder Erschöpfung
  • unruhiger Schlaf, Müdigkeit
  • Verdauungsprobleme
  • erhöhte Reizbarkeit oder Rückzug
  • Blockaden, keine Lösungen finden, Grübeln
  • Konzentrationsprobleme
  • Muskelverspannungen, Nervosität
  • Gefühl von innerer Getriebenheit oder emotionaler Leere
🌀 Das innere Gleichgewicht: Homöostase und Allostase

Unser autonomes Nervensystem sorgt dafür, dass in unserem Körper ein stabiles inneres Gleichgewicht – die sogenannte Homöostase – aufrechterhalten wird. Es reguliert ständig lebenswichtige Prozesse wie Atmung, Herzfrequenz, Blutdruck, Verdauung und Muskelspannung.

Sein Ziel: Balance bewahren, auch wenn aussen gerade viel los ist. 💡

Wenn wir jedoch über längere Zeit im Überlebensmodus bleiben – also in dauerhafter Anspannung oder Erschöpfung –, gerät dieses Gleichgewicht aus dem Lot. Der Körper versucht, sich anzupassen, und stellt sich auf ein neues «Normal» ein.

Diese aktive Anpassung nennt man Allostase. 💡

➡ Allostase bedeutet: Der Körper hält das System am Laufen, aber zu einem hohen Preis. Wir funktionieren weiter, doch wir tun es unter Dauerstress. Herzfrequenz, Muskelspannung oder Verdauung bleiben verändert, als wäre Gefahr noch immer da. Erst wenn wir unserem Nervensystem wieder Sicherheit und Erholung signalisieren, kann es von der Allostase zurück in die Homöostase finden – also in einen Zustand, in dem Körper und Geist wirklich zur Ruhe kommen können. 💡

Vagusnerv einfach erklärt: Ventral und dorsal gemäss Polyvagal-Theorie🦋

Der Vagusnerv – ein zentraler Teil der Polyvagal-Theorie – ist wie ein Dirigent. Er ist an vielen lebenswichtigen Funktionen beteiligt und wandert fast durch den ganzen Körper. Er kann über die so genannte Vagusbremse dafür sorgen, dass wir genug Energie haben und im Flow mühelos alles erledigen. Der Vagusnerv ist eine Art Autobahn, auf der sehr viele Informationen aus dem Köper und unseren Sinnen unterwegs sind.

➡ Rund 20 Prozent dieser Informationen fliessen vom Kopf zum Körper. Aber 80 Prozent der Informationen fliessen vom Körper in den Kopf. 💡Daher kommt eine der wichtigen Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie: Es ist wichtiger, wie sicher wir uns fühlen, als wie sicher wir tatsächlich sind. 

Bahnbrechend ist die Erkenntnis von Dr. Stephen Porges, dass der Vagusnerv zwei Äste mit unterschiedlichen Funktionsweisen hat.  Der vordere, ventrale Ast ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste und er ist für soziale Bindung zuständig. Wenn wir uns sicher fühlen, ist er aktiv und wir sind gelassen und offen. 

Der hintere Vagusnerv-Ast ist wie eine Vollbremse: Er ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Ast. Er lähmt uns und macht uns unbeweglich, wenn wir in gefühlter Lebensgefahr sind. Im Coaching nennen wir diese Reaktion Totstellreflex.

➡ Den vorderen, ventralen Vagusnerv-Ast können wir aktiv stimulieren und unserem autonomen Nervensystem so dabei helfen, wieder in ein Gleichgewicht zu kommen.

Wie du dein Nervensystem regulieren kannst💡

«Regulieren» bedeutet, unserem Nervensystem Impulse zu geben, die ihm signalisieren: «Alles in Ordnung – wir sind sicher.» So kann es sich mit unserer Unterstützung aus einem Zustand hoher Alarmbereitschaft oder Erstarrung zurück in ein flexibles Zusammenspiel von Aktivierung und Ruhe bewegen.

➡ Das funktioniert nicht auf Knopfdruck. Insbesondere wenn das Nervensystem durch Entwicklungs- und Schocktraumata, frühkindliche Vernachlässigung, anhaltenden Stress, Burnout, Konflikte und Krisen geprägt wurde, hat es sich auf einen Zustand der Alarmbereitschaft oder des Rückzugs eingestellt.

➡ Lies hierzu auch: Was bedeutet Sicherheit für unser Nervensystem?

🔍Wie trifft unser Nervensystem Entscheidungen? – Die Neurozeption

Das autonome Nervensystem nutzt eine Art inneren Radar: die sogenannte Neurozeption. Dabei verarbeitet unser Körper unbewusst ständig Informationen aus den Sinnesorganen, aus der Umgebung und aus dem Körperinneren – mit der Frage:

➡ Bin ich sicher – oder in Gefahr?

Durch chronischen Stress, Traumata und Erfahrungen von Scham, Ausgrenzung oder Mobbing, kann diese Beurteilung nachhaltig verändert werden. Dann bewertet unser Nervensystem auch harmlose oder sogar sichere Situationen als bedrohlich – und reagiert mit Stress, Rückzug oder Anspannung. Dr. Stephen Porges bezeichnet das als «falsche» Neurozeption: Wir reagieren, als wären wir in Gefahr.

➡ Das bedeutet nicht, dass das Nervensystem etwas falsch macht. Es hat noch nicht erfahren dürfen, dass es jetzt sicher ist und diese Situationen keine Gefahr mehr bedeuten. 

➡ Lies hierzu auch: Die Neurozeption

Co-Regulation: Sicherheit in Verbundenheit erleben🧡

Ein Baby kann sich und seine Gefühle noch nicht selbst organisieren. Es ist auf Co-Regulation angewiesen: Es weint und eine Bindungsperson vermittelt dem Nervensystem des Kindes Sicherheit. Es beruhigt sich.

➡ Als erwachsene Personen können wir uns eigentlich selbst regulieren. Trotzdem beeinflussen sich Nervensysteme weiter gegenseitig. Als soziale Wesen sind wir auch als erwachsene auf Co-Regulation durch sichere Bindung angewiesen.

Wenn wir unter Druck oder gelähmt sind, gelingt es uns allein oft nicht, uns wieder sicher zu fühlen (sprich, zu regulieren). Ausserdem kann die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren eingeschränkt entwickelt sein.  Gemeinsam mit einer Person, die als sicher empfunden wird, lässt sich die Fähigkeit zur Selbstregulation nachhaltig trainieren.

Summary

Die Polyvagal-Theorie erklärt uns, wie das autonome Nervensystem auf gefühlte Sicherheit und gefühlte Bedrohung reagiert. Diese unbewusste, autonome Reaktion beeinflusst unser Denken und Hadeln: Wir sind plötzlich gestresst, wie gelähmt oder völlig blockiert.

Drei wichtige Grundsätze der Polyvagal-Theorie sind die Hierarchie, die Neurozeption und Co-Regulation.

➡ Die Polyvagal-Theorie ist ein Rahmen, mit dem wir im Coaching besser verstehen können, warum wir scheinbar grundlos anhaltend gestresst, verängstigt oder blockiert sind und in Reaktionsmustern festhängen. Das erlaubt uns einen neuen Zugang zu uns selbst und damit auch, Dinge aktiv zu verändern.

➡Ein Buchtipp, wenn du tiefer einsteigen möchtest: Das Vagusnerv-Reset-Programm

Disclaimer: Im Sinne der Verständlichkeit, werden komplexe anatomische Zusammenhänge bewusst für ein Coaching-Publikum vereinfacht dargestellt. Zum Beispiel arbeitet das autonome Nervensystem natürlich nicht allein, sondern in einem komplexen Zusammenspiel.

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Gisèle Ladner polyvagal-informierte Coachin in St.Gallen

Mein Name ist Gisèle Ladner. Ich habe meine Coaching-Praxis in St.Gallen vor rund vier Jahren gegründet. Ich bin zweifach polyvagal-informiert zertifiziert und liebe die Arbeit mit dem autonomen Nervensystem.

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